Türmchenbauer

Türmchenbauer

Kleine Anmerkung:
Zwar erzähle ich gern in der Ich-Form. Meine Geschichten sind deshalb aber nicht biografisch zu verstehen.

Türmchenbauer
© Gisela Baltes

Großvater war eine Autorität in der Familie. Unvorstellbar, dass Katja einen Freund hatte, ohne ihn bei der großväterlichen Instanz begutachten zu lassen. Es hatte wenig Sinn, die armen Opfer vorher zu warnen. Der Großvater verwandte immer wieder neue Methoden, ihnen auf den Zahn zu fühlen.

Sein Urteil behielt er allerdings für sich. Man konnte ihm weder eine positive, noch eine negative Bemerkung entlocken. Erst wenn eine von Katjas Beziehungen endete, ging sie wieder zum Großvater. Nichts konnte bei Liebeskummer besser trösten als Großvaters Einordnungen der falschen Kandidaten. „Ach, dat wor doch bloß ene Wendehals!“ sagte er von Herbert. Und damit hatte er Recht - ebenso wie bei dem Strohdrescher Werner und dem Erbsenzähler Carsten. Wenn er allerdings von einem der Verursacher ihres Kummers bedächtig meinte: „Wor eijentlisch ene helle Kopp“ oder andere positive Merkmale hervorhob, wurde der Schmerz noch größer.

Mit Robert glaubte sie, endlich den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Doch die Pläne für eine gemeinsame Zukunft wurden jäh in Frage gestellt, als er ein verlockendes Angebot für ein Forschungsprojekt in Amerika bekam, das er auf jeden Fall wahrnehmen wollte. Aber auch sie hatte sich gerade eine zukunftsträchtige Stellung erkämpft, die sie nicht aufgeben wollte. Von einer Fernbeziehung hielten wir beide nichts. Also trennten sie sich. Eine schmerzliche, aber vernünftige Entscheidung.

Großvater war der erste, dem sie davon erzählte.
„Dä Robert, dat is ene Türmschebauer!“ war sein Kommentar.
Türmchenbauer? Den Begriff hatte er noch nie gebraucht.
„Türmchenbauer? Klingt ziemlich negativ!“ erwiderte Katja.
„Net unbedink“, meinte der Großvater. „Dä Robert, dä will no janz ovven. Ävver dat is net unjefährlisch. Wer janz hu kütt, dä kann och janz deep falle.“
Sie muss ihn wohl sehr skeptisch angesehen haben. Jedenfalls kramte er seine zerlesene Bibel heraus und las ihr die Geschichte vom Turmbau zu Babel vor.

Vielleicht wollte er noch mehr dazu sagen. Aber dann verzichtete er darauf. Er legte ein Bildchen an die Stelle, aus der er gerade vorgelesen hatte. Dann klappte er die Bibel zu und gab sie seiner Enkelin. „Hier“, sagte er, „nimm du die. Vielleicht brauchst du sie mal.“ Wenn er hochdeutsch sprach, hatte es keinen Zweck, ihm zu widersprechen.

Seitdem begleitete seine Bibel Katja wie ein Talisman durch ihr ganzes Leben. Selbst auf Reisen nahm sie sie mit, auch wenn sie zunächst nie hinein schaute.

Hin und wieder entdeckte sie Notizen über Robert in der Zeitung. Berichte über Erfolge und über Rückschläge - genau wie bei ihr. Einmal war sogar ein Bild von ihm dabei. Er hatte sich kaum verändert. Sie schnitt sich den Artikel aus und legte ihn zu den anderen.

Eines Tages stand er selbst vor der Tür. Er sei auf der Durchreise, erklärte er. Und da hätte er mal vorbeischauen wollen. Sie hatten sich eine Menge zu erzählen. Robert wusste erstaunlich gut über Katja Bescheid.

Als er sich bei ihr umsah, entdeckte er die alte Bibel. Katja erzählte ihm, wie sie dazu gekommen war. Das Bildchen steckte immer noch bei der Geschichte vom Turmbau zu Babel und schlug sich fast von selbst dort auf. Robert las die Geschichte aufmerksam durch. „Vielleicht hatte dein Großvater Recht. Vielleicht bin ich wirklich ein Türmchenbauer“ sagte er nachdenklich. Dann fügte er hinzu: „Und was hat er zu dem Türmchen gesagt, an dem du seit Jahren baust?“
 

Denkanstöße für Gesprächsgruppen

„Türmchenbauer“ - da sehe ich meine beiden Söhne vor mir, wie sie vor vielen Jahren mit Bauklötzen um die Wette bauten. Wer schafft es, den höchsten Turm zu bauen? Wer hat sich überschätzt? Wessen Turm fällt polternd zusammen?

„Türmchenbauer“ - das erinnert mich an die Türme, die ich im Laufe meines Lebens zu bauen versuchte: Manche erfolgreich, andere sind zusammengebrochen. Wie beim Bauen mit den Bauklötzen kommt es auch im Leben immer wieder darauf an, das richtige Maß zu finden, mich nicht zu überschätzen, aber - und das ist ebenso wichtig - mich selbst auch nicht zu unterschätzen.

„Türmchenbauer“ - das beschränkt sich nicht nur auf das Leben des einzelnen, sondern hält unsere ganze Welt in Atem: Immer höher, immer schneller, immer besser wollen wir werden, bis wir schließlich vor der Frage stehen: Darf der Mensch wirklich alles tun, was menschlichem Forschergeist möglich ist? Wo setzen wir uns selbst Grenzen? Das rechte Maß kann uns deshalb auch abfordern, gegen den Strom zu schwimmen.

„Türmchenbauer“ - darum geht es auch in der Geschichte vom Turmbau zu Babel: Die Leute von Babel wollen einen Turm bauen, der bis zum Himmel reicht. Das gefällt Gott nicht - erzählt die biblische Legende. So bringt er ihr Werk zum Scheitern, indem er die Sprache der Menschen verwirrt und sie über die ganze Welt verstreut. Eine Geschichte über die Maßlosigkeit, die Vermessenheit des Menschen. Gewiss wird heute niemand unsere Hochhäuser für vermessen halten. Doch hat sich am 11. September 2001 gerade hier die Verletzbarkeit unserer hoch entwickelten Welt gezeigt, als sich diese biblische Vision auf schreckliche Weise erfüllte: Hier das World Trade Center als ein Symbol für die Grandiosität menschlichen Könnens - dort der zerstörerische Größenwahn des Terrorismus, der dieses Symbol zum Einsturz brachte. Hier wie dort: Sprachverwirrung, Menschen, die aufgehört haben, sich zu verstehen und die sich deshalb bekämpfen und gegenseitig vernichten.

Fragen, die weiter helfen:

  • Wo liegt mein eigenes Maß? Welche Grenzen erkenne ich bei mir?
  • Mute ich mir zuviel zu? Verlange ich mir zu wenig ab?
  • Richte ich mein Handeln an meinem eigenen Maß aus oder an den Erwartungen der anderen, an dem, „was alle tun“?
  • Verliere ich mein Maß aus den Augen, weil ich dem Wahn „immer besser, immer schneller immer höher“ nachlaufe?
  • Sorge ich für eine Ausgewogenheit von Leib-Herz-Verstand?
  • Nehme ich auf das Maß meiner Mitmenschen Rücksicht oder überfordere ich sie mit meinen Ansprüchen?
  • Übernehme ich im Rahmen meiner Möglichkeiten Mitverantwortung für das rechte Maß in der mich umgebenden Welt?