Morgen bringe ich die Kinder

Morgen bringe ich die Kinder

Vorbemerkung
Anspiele sind kurze Szenen, in denen leicht verständliche Alltagssituationen wiedergegeben werden, die zum Nachdenken oder zum Gespräch in Gruppen anregen können.

 

Morgen bringe ich die Kinder

© Gisela Baltes
 

Situation:

Eine erwachsene verheiratete Tochter ruft ihre alleinstehende Mutter an.

 

Tochter: Hallo, Mutter!

Mutter:  Guten Tag, Claudia! Wie schön, mal wieder etwas von dir zu hören. Wie geht’s euch denn?

Tochter: Bestens, bestens. Aber wie immer im Stress. Du weißt, wie das bei uns ist. Ich hab auch jetzt nicht viel Zeit. Erzählen müssen wir ein andermal. Ich wollte dir bloß eben Bescheid sagen, daß wir dir morgen die Kinder für drei Wochen bringen. Wir fliegen nämlich Samstag nach Tunesien.

Mutter:  Aber das geht nicht!

Tochter: Du machst Witze! Heute schaff ich das auf  keinen Fall mehr, die zu bringen. Und übermorgen geht auch nicht. Da muß ich noch jede Menge Sachen für den Urlaub besorgen und packen. Da kann ich die Kinder nicht gebrauchen.

Mutter:  Du hast mich falsch verstanden. Du sollst die Kinder weder heute, noch morgen, noch übermorgen bringen. Ich kann sie diesmal nicht nehmen. Jedenfalls nicht in der nächsten Woche. Ich hab mich für ein Bibelseminar auf  der Wolfsburg angemeldet.

Tochter: Ach, so. Jetzt hast du mir aber für einen Moment wirklich einen Schrecken eingejagt. Ich hab schon gedacht, es wäre was Wichtiges. Du kannst das Bibelseminar ja absagen. Falls dir da Unkosten entstehen, übernehmen wir die selbstverständlich.

Mutter:  Aber ich hab mich schon sehr auf diese Bibelwoche gefreut.

Tochter: Was meinst du, wie deine Enkelkinder sich freuen, mal wieder zur Oma zu kommen.

Mutter:  Ich freu mich auch immer, wenn ich sie da habe. Ich kann sie gern in der zweiten und dritten Woche nehmen. Aber für die erste Woche mußt du eine andere Lösung finden.

Tochter: Das kann doch nicht dein Ernst sein. Wir fliegen doch schon in drei Tagen! Wie soll ich da noch so schnell jemanden finden?

Mutter:  Das ist dein Problem.

Tochter: Wie kannst du nur so egoistisch sein! Du weißt, wir brauchen unseren Urlaub. Der Termin steht schon so lange fest. Den können wir jetzt nicht einfach verschieben.

Mutter:  Ich gönne euch euren Urlaub von Herzen. Wenn der Termin wirklich schon so lange feststeht, dann hättet ihr das doch vorher mal mit mir absprechen können.

Tochter: Meine Güte, Mutter! Sei doch nicht so kleinkariert. Wie sollten wir denn ahnen, daß du auf einmal Schwierigkeiten machen würdest? Schließlich hast du die Kinder jedes Jahr genommen. Im nächsten Jahr können wir ja vorher eine schriftlichen Antrag bei dir einreichen.

Mutter:  Ein kurzer Anruf zur rechten Zeit genügt vollkommen.

Tochter: Du nimmst sie also?

Mutter:  Nein, Claudia. Ich werde mein Bibelseminar machen.

Tochter: Ich versteh dich nicht. Du kennst die Bibel doch schon längst in- und auswendig. So’n blödes Seminar kann dir doch nicht wichtiger sein als deine Familie.

Mutter: Ich glaube, du verstehst mich nicht. Du kannst doch nicht einfach über meine Zeit verfügen.

Tochter: Aber du hast doch jede Menge Zeit. Warum kannst du denn nicht mal Zeit für uns haben?

Mutter:  Ich hab sehr viel Zeit für euch. Aber nicht in der nächsten Woche.

Tochter: Aber du kannst doch nicht unseren Urlaub einfach platzen lassen.

Mutter:  Ich denke nicht, daß ich dafür verantwortlich bin, wenn das wirklich passiert. Aber ich bin sicher, daß dir schon noch eine andere Lösung einfallen wird.

Tochter: Soviel Kaltschnäuzigkeit hätte ich nicht von dir erwartet, Mutter! Und dabei läufst du dauernd in die Kirche. Hast du in der Bibel noch nie was von selbstloser Nächstenliebe gelesen?

 

 

Denkanstöße

Die „dritte Lebensphase“ ist viel zu schade dafür, den einzigen Lebensinhalt darin zu sehen, auf Abruf für Kinder und Enkel bereit zu stehen. Statt dessen entdecken viele „Senioren“ neue Interessen, die ihr Leben bereichern. Oder sie ergreifen die Möglichkeit, endlich alte Wünsche und Träume zu verwirklichen, das zu tun, was in ihrem Leben vielleicht bisher zu kurz gekommen ist. Sie musizieren, malen, besuchen Museen, Ausstellungen, Weiterbildungsveranstaltungen.

Natürlich lieben sie ihre Kinder und Enkel und freuen sich über das Zusammensein mit ihnen. Aber wo die Kinder sie zu verplanen und zu vereinnahmen suchen, gilt es, ohne schlechtes Gewissen "Nein" sagen zu lernen und sich von der Meinung und dem Urteil der Kinder unabhängig zu machen. Die Kinder müssen lernen, die Lebensform der Eltern zu akzeptieren und zu respektieren.

 

Im Anschluss an die Szene könnte ein Gespräch über die in dem Anspiel angesprochene "selbstlose" Nächstenliebe stattfinden:

- Was bedeutet: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" ?
- Was hältst du von dem Gebot: "Liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst"?
- Kann ich den Nächsten lieben, wenn ich mich selbst nicht liebe?
- Wie müsste eine Aufforderung zu "selbstloser" Nächstenliebe heißen.