Das letzte Opfer Kains
Versuch, eine alte Geschichte neu zu erzählen
© Gisela Baltes
Nein, er hatte seinen Bruder nicht umgebracht. Geprügelt hatten sie sich damals, als es zum ersten Mal passierte. Gehasst hatte er ihn. Aber getötet hatte er ihn nicht.
Angefangen hatte es vor vielen Jahren. Sein Bruder Abel, damals fast noch ein Kind, hatte vom Vater eine kleine Herde anvertraut bekommen. Ihm, Kain, dem Älteren und Stärkeren hatte der Vater die Feldarbeit übertragen. Es war eine gutes Jahr. Die kleine Herde hatte sich vermehrt und auch die Ernte der Feldfrüchte war reichlich ausgefallen. Da schlug Abel vor: “Lass uns Gott für seinen Segen ein Dankopfer darbringen.”
So baute jeder einen Altar, Kain nahe beim Felde, Abel ein wenig weiter bei den Weiden. Jeder gab das Beste von dem, was Gott ihm geschenkt hatte, und legte es auf den Altar. Dann entzündeten sie ihr Opfer.
Kain sah von weitem, wie von dem Altar seines Bruders der Rauch senkrecht zum Himmel stieg, ein Zeichen, dass Gott sein Opfer wohlgefällig annahm. Kains Opfer dagegen schwelte und qualmte und hüllte den Altar in eine schmutzig-graue Rauchwolke. Voller Haß und Eifersucht stürzte er sich auf den Bruder und schlug ihn zu Boden. Doch gleichzeitig war ihm bewusst, dass es gar nicht Abel war, dem sein Zorn galt. So ließ er von ihm ab. Doch seine Eifersucht wurde Jahr für Jahr neu entfacht, wenn sie ihr Opfer Gott dar brachten und Gott seines verschmähte.
Nun war er alt geworden, doch immer noch stark. Jahr für Jahr hatte Gott ihm gute Ernten geschenkt. Doch seinen Dank hatte Gott stets zurückgewiesen. Jahr für Jahr. Diesmal war die Ernte besonders reich. Gab es einen besseren Beweis für Gottes Segen? Diesmal würde Gott seinen Dank nicht verschmähen. Diesmal nicht!
Der Altar war längst hergerichtet. Zuunterst viel Reisig, dem Feuer erste Nahrung zu geben.
Und darauf, sorgfältig ausgewählt, die besten und schönsten Früchte der Ernte.
Er wartete die Nacht ab. Ringsum Stille. Alle waren zur Ruhe gegangen.
Es war soweit. Er entfachte das Feuer. Hell brannten die Reiser auf.
Er kniete sich auf den Boden, beugte den Kopf und sprach:
„Herr, sieh Deinen Sohn Kain, der sich hier vor Dir beugt.
Du hast meine Arbeit mit reicher Ernte gesegnet.
Wie in jedem Jahr bringe ich Dir vom Besten meiner Früchte.
Nimm meine Gaben an, Herr.“
Kain hob den Kopf, sah, wie die hellen Flammen auf die Früchte übersprangen, in sie eindrangen und qualmend wieder entwichen. Dunkler Rauch legte sich auf und um den Altar.
Da hob er die Arme und rief:
„Höre mich an, Herr!
Mich, Deinen ungebärdigen Sohn, der Dich liebt.
Ich bitte Dich, schenke mir das Zeichen Deiner Liebe und Nähe.
Denke, Herr, ich bin Dein Sohn!“
Der beißende Qualm breitete sich aus, erreichte ihn, brannte ihm in den Augen, nahm ihm den Atem. Er warf sich auf den Boden, bereit zu sterben.
Gegen Morgen erhob er sich, richtete sich auf, ein stattlicher entschlossener Mann.
Sorgfältig entfernte er die verkohlten Reste seines Dankopfers, säuberte die Brandfläche.
Dann begann er, den Altar abzutragen.
Er trug den Altar ab, den er als junger Mann gebaut hatte.
Er trug den Altar ab, der ihm Jahr für Jahr als Opferstätte gedient hatte.
Er trug den Altar ab, einen Stein nach dem anderen, bis keiner mehr blieb.
Den Ort, auf dem der Altar gestanden hatte, nannte er „Gott ist fern”.
© Gisela Baltes