Was ist bloß mit Vater los?

Was ist bloß mit Vater los?

Kleine Anmerkung:
Zwar erzähle ich gern in der Ich-Form. Meine Geschichten sind deshalb aber nicht biografisch zu verstehen.

Was ist bloß mit Vater los?

© Gisela Baltes

Eigentlich hatte der Tag äußerst viel versprechend begonnen. Anna-Maria hatte endlich den letzten Teil des Manuskripts ihres neuen Romans "Herbstlaub" beim Verlag abgeben. Und Karl-Josef hatte es geschafft, sich für vier Wochen in seiner Kanzlei entbehrlich zu machen. So schien ihrem immer wieder aufgeschobenen Urlaub nun nichts mehr im Wege zu stehen.

Aber vorher mussten sie noch Anna-Marias Eltern einen kurzen Besuch abstatten. Die Mutter hätte es ihnen nie verziehen, wenn sie weggefahren wären, ohne sich vorher zu verabschieden.

"Guck mal, was ich eben für deine Mutter in dem Trödelladen bei uns an der Ecke entdeckt habe", meinte Karl-Josef und präsentierte seiner Frau stolz einen ziemlich abgeliebten Tedyybären. „O nein, musst du sie wirklich in ihrem Teddy-Tick unterstützen?“, stöhnte seine Frau. „Meinst du, sie hat nicht schon genug Teddybären. Es gibt ja kaum noch einen teddyfreien Platz im Haus. Nur gut, dass mein Vater so eine Seele von Mensch ist.“ „Ach was! Sie wird diesen treuen Knopfaugen nicht widerstehen können und schon noch ein Plätzchen für das Kerlchen finden“, meinte Karl-Josef zuversichtlich.

Guter Dinge machten die beiden sich also auf, um die Eltern zu besuchen. Aber sie kamen gar nicht dazu, ihr Mitbringsel zu überreichen. Denn die sonst so fröhliche Mutter öffnete ihnen völlig verstört und verheult die Tür. "Was ist passiert?" fragten die jungen Leute ziemlich synchrom und verursachten damit einen Sturzbach unzusammenhängender und unverständlicher Schluchzer. "Vater" und "Stromer" waren die einzigen Brocken, die Anna-Maria verstand.

Karl-Josef führte Mutter ins Wohnzimmer und leitete als erfahrener Anwalt die Befragung. "Was ist denn mit Vater?" begann er und rief damit einen erneuten heftigen Gefühlsausbruch hervor. Anna-Maria versuchte ihm beizustehen und fragte. "Ist was mit Stromer?" O, hätte sie das bloß gelassen! Der erste Ausbruch war nichts im Vergleich zu dem, den diese Frage auslöste.

Unter vielen, vielen Tränen ließ sie sich schließlich ein paar Einzelheiten entlocken.
“Ich habe Stromer beim Mittagsschlaf mit ins Bett genommen“,  schluchzte sie. „Dann bin ich nur noch kurz mal rausgegangen, weil ich nachsehen wollte, ob ich den Herd ausgeschaltet hatte.“

Lautes Weinen.

"Und dann ging Vater ins Schlafzimmer, weil er auch seinen Mittagsschlaf halten wollte. Dabei schläft er doch sonst immer auf seinem Sessel ein."  

Noch heftigeres Weinen.

"Aber er kam sofort wieder raus und hinter mir her in die Küche."

Tränenfluten.

"Und dann holte er mein spitzes Officemesser aus der Schublade."

Wilde Verzweiflung.

"Und damit ging er wieder ins Schlafzimmer."

Schließlich mit ersterbender Stimme: "Und dann kam er wieder raus und verließ das Haus. Ohne ein Wort zu sagen."

Nun gab es kein Halten mehr. Ein Sturzbach von Tränen. Alle Taschentücher längst durchgeweicht!

Starr vor Entsetzen fragte Anna-Maria: "Und was ist im Schlafzimmer passiert?" Da heulte ihre Mutter  laut auf: "Aber das ist es ja gerade. Das weiß ich doch nicht. Ich konnte einfach nicht reingehen." Dann schnäuzte sie sich und flüsterte beschwörend: "Ihr müsst reingehen und nachsehen!"

So ließen Anna-Maria und Karl-Josef  denn die weinende Mutter allein und öffneten, auf das Schlimmste gefasst, die Schlafzimmertür. Der Anblick, der sich ihnen bot, war grauenhaft. Stromer lag da - mitten im Bett - übel zugerichtet - entstellt bis zur Unkenntlichkeit. In blinder Wut musste der sonst so friedfertige Vater immer und immer wieder auf ihn eingestochen haben.

Karl-Josef fasste sich als erster.

"Nun ja", sagte er. "Irgendwie verstehe ich deinen Vater schon. Ich glaube, ich hätte auch durchgedreht, wenn ich jetzt auch noch mein Bett mit einem von Mutters Teddybären hätte teilen sollen."