Peinlich, peinlich!
© Gisela Baltes
Drei Tage hatte Sabine das Haus auf Hochglanz poliert. Das Essen, das sie servieren wollte, hatte sie in den vergangenen Wochen mehrfach ausprobiert. So konnte also nichts mehr schief gehen und ihre einschüchternd tüchtige Schwiegermutter konnte kommen. Und sie kam.
Nun saß die ganze Familie um den festlich gedeckten Tisch herum. Das Essen war vorzüglich geraten. Schwiegermutter nahm sich sogar von allem ein zweites Mal. Wie stets erzählte sie eine launige Geschichte nach der anderen.
Doch plötzlich stockte ihr Redefluss. Die anderen, die sich hingebungsvoll dem köstlichen Essen gewidmet hatten, blickten bei dieser unerwartet einsetzenden Stille erstaunt auf und folgten Schwiegermutters Blick, der wie hypnotisiert auf ein dickes dunkles Etwas auf dem Rand ihres Salattellers gerichtet war. Unter den Augen der entsetzten Familie kabbelte dieses dunkle Etwas über den Tellerrand, verlor den Halt, purzelte herunter, rappelte sich wieder auf und spazierte seelenruhig über die blütenweiße Tischdecke.
Sabines Gabel war auf dem Weg zu ihrem Mund mitten in der Luft hängen geblieben. Ein wenig Soße tropfte herunter. Aber darauf achtete niemand. Sie wurde leichenblass und unmittelbar darauf glühend rot. Sie meinte, ihr Herz müsse stehen bleiben. Warum schellte jetzt nicht der Wecker und sie wachte auf und erkannte, dass dies nur ein böser Traum, eine Ausgeburt ihres unheilbaren Schwiegermutterkomplexes? Aber nichts erlöste sie aus diesem Albtraum und so musste sie fassungslos zusehen, wie dieses kleine krabbelnde Ungeheuer ihrer Schwiegermutter bestätigte, dass ihr Sohn eine total unfähige und nachlässige Person geheiratet hatte.
Niemand sagte ein Wort. Da streckte die Schwiegermutter ihren gepflegten Zeigefinger aus und legte ihn dem unternehmungslustigen Käfer in den Weg. Munter erklomm der die Hürde und krabbelte nun auf ihrem Handrücken weiter. „Was für ein vorwitziger kleiner Kerl!“ sagte die Schwiegermutter. „Du hast dich wohl von draußen hier eingeschlichen. Aber glaub nicht, dass du uns den Appetit an diesem leckeren Essen verderben kannst.“
Darauf stand sie auf, brachte den Käfer durch die geöffnete Terrassentür nach draußen, setzte sich wieder an den Tisch und aß seelenruhig ihren Salat auf.