Ziemlich alltäglich

Ziemlich alltäglich

Kleine Anmerkung:
Zwar erzähle ich gern in der Ich-Form. Meine Geschichten sind deshalb aber nicht biografisch zu verstehen.

Ziemlich alltäglich

© Gisela Baltes

 

Als er vier war und sie zwei, haute er einem anderen Jungen die Schüppe auf den Kopf, weil der sie mit Sand beworfen hatte. Als er acht war und sie sechs, trug er ihr manchmal den Schulranzen. Als er 14 war und sie 12, schrieb er ihr die ersten Liebesbriefe. Mit 18 hielt er ihr aufdringliche Freunde vom Leib. Mit 24 renovierte er die kleine Wohnung, die sie sich ausgesucht hatte. Mit 26 half er ihr bei der Diplomarbeit. Mit 28 erkannte er, daß er keine Chancen bei ihr hatte.

 

Da schickte er ihr eine Postkarte: „Rechne nicht mehr mit mir!“ und verschwand aus ihrem Leben.

 

Sie fuhr zu seiner Wohnung. Aber er war ausgezogen.

Sie rief bei seiner Arbeitsstelle an. Aber er hatte gekündigt.

Sie erkundigte sich bei seinen Eltern. Aber die wußten auch nicht, wo er war.

Sie fragte bei seinen Freunden nach. Die zuckten nur die Schultern.

Sie suchte alle Plätze auf, an denen sie zusammen gewesen waren. Aber nie begegnete sie ihm.

 

Da setzte sie eine Anzeige in die Zeitung: „Bitte gib mir noch eine Chance!“

Seitdem wartet sie darauf, daß er zurückkommt.

 

 

 

Kurzer Denkanstoß für Gesprächskreise

 

Von Anatole France stammt der Ausspruch „Es ist nicht üblich, das zu lieben, was man besitzt."

Auf der Suche nach dem Glück schätzen wir oft das nicht genug, was wir besitzen.

Wie selbstverständlich sind uns die Menschen, die uns lieben!

Wie gleichgültig und nachlässig gehen wir oft mit ihnen um!

Müssen wir sie erst verlieren, um zu erkennen, wie wichtig sie uns sind?