Ich vergesse dich nicht
© Gisela Baltes
,,Dein Gottvertrauen möchte ich haben!“ Wie oft habe ich das zu meiner Tante Lisbeth gesagt. Und das meinte ich durchaus ernst. Denn niemals ist mir jemand begegnet, der sich darin mit ihr messen kann. Obwohl sie in ihrem Leben schon viele Schicksalsschläge einstecken musste, ist sie nie verzweifelt. Immer glaubte sie fest daran, dass ihr ,Herrgott’ ihr in jeder Notlage beistehen würde. Das half ihr, auch die schlimmsten Krisen zu überstehen.
,,Wie bist du eigentlich zu diesem felsenfesten Gottvertrauen gekommen?“ habe ich sie einmal gefragt. Sie wollte so recht nicht mit der Sprache herausrücken. Das machte mich erst wirklich neugierig, und ich ließ nicht locker, bis sie zu erzählen begann:
,,Als kleines Mädchen war ich viel bei meiner Oma und habe die immer wieder beim 'Bibelpicken' beobachtet.“
,,Bibelpicken? Was ist denn das?“ unterbrach ich meine Tante.
Tante Lisbeth lächelte verlegen: „Immer, wenn Oma sich in einer Sache keinen Rat wusste, schlug sie mit geschlossenen Augen die Bibel auf und tippte blind mit einer ihrer Stricknadeln auf eine Stelle der aufgeschlagenen Seiten. Dann las sie sehr sorgfältig, was da stand, und deutete solange an dem Gelesenen herum, bis sie eine Antwort auf ihre Frage fand.“
Etwas befremdet wollte ich meine Tante wiederum unterbrechen. Aber sie winkte ab: ,,Ich weiß, was du sagen willst. Aber meine Oma glaubte eben da dran. Und weil meine Oma daran glaubte, glaubte auch ich ans Bibelpicken - als Kind jedenfalls.“
Nun konnte ich mich nicht mehr zurückhalten: ,,Willst du damit sagen, dass du das auch gemacht hast?“
,,Sei doch nicht so ungeduldig!“ bremste mich meine Tante. ,,Lass mich erst mal zu Ende erzählen.“
So fuhr sie fort: ,,Wie du vielleicht weißt, ist meine Mutter sehr früh gestorben. Ich war damals noch ein Kind und konnte nicht begreifen, dass ich sie nun nie mehr sehen würde. Ganz verzweifelt fragte ich die Oma, ob mich meine Mama denn nicht lieb gehabt und deshalb verlassen hätte. Meine Oma versicherte mir, dass die Mama mich immer lieb gehabt hätte und auch weiter lieb haben würde. Aber jetzt sei sie beim lieben Gott. Vergessen würde sie mich bestimmt nie. Dann nahm die Oma mich in den Arm und wiegte mich hin und her. Aber ich konnte nicht aufhören zu weinen. Schließlich wusste sie sich keinen anderen Rat mehr, als mir vorzuschlagen, Bibelpicken zu machen. Für einen Augenblick war ich abgelenkt. Denn das hatte ich zwar immer wieder bei ihr beobachtet, aber noch nie selbst machen dürfen.
Der Vers, auf den ich tippte, war Jes 49,15: ‚Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht.’ Oma erklärte mir, mit dem leiblichen Sohn sei das nicht so wörtlich zu nehmen. Das gälte auch für eine Tochter. Und das wäre auch nur eine Scheinfrage, weil die Antwort sonnenklar sei. Es wäre also schon mal ganz sicher, dass die Mama mich lieb habe und nie vergessen würde, auch wenn sie jetzt nicht mehr bei mir sein könne. Aber ganz wichtig sei auch der zweite Teil. Es könne kein Zufall sein, dass ich gerade auf diese Stelle gepickt hätte. Damit wolle der liebe Gott mir unzweifelhaft sagen, dass er mich nie im Stich lassen würde, erst recht jetzt nicht, wo die Mama nicht mehr bei mir sein könne.
Brauchte es noch mehr Beweise? Die Tränen versiegten, und ich fühlte mich sehr getröstet.“
Wir schwiegen eine Weile. Schließlich griff ich den Faden wieder auf: ,,Hast du dieses Bibelpicken denn später noch mal gemacht?“
,,Ein paar mal als junges Mädchen“, lächelte meine Tante.
,,Und passte das auch so gut?“
,,Nein überhaupt nicht. Ich hätte den Text schon sehr verbiegen müssen, wie die Oma das vermutlich oft gemacht hat. Ich glaube auch nicht, dass das eine geeignete Methode ist, Gott zum Reden zu bringen. Die Bibel ist kein Orakelbuch.“
Wieder verstummte meine Tante. Ich fühlte, dass sie noch etwas sagen wollte. Deshalb störte ich sie nicht und überließ sie ihren Gedanken. Schließlich fuhr sie fort: ,,Nein, die Bibel ist wirklich kein Orakelbuch. Aber trotzdem habe ich später oft darüber nachgedacht, ob es nun ein Zufall oder Fügung war, dass ich in meinem Kummer damals gerade auf diese tröstliche Stelle gestoßen bin. Sie war ein Geschenk für mich, ein Geschenk für mein ganzes weiteres Leben. ‚Ich vergesse dich nicht.’ Obwohl ich diese Stelle längst auswendig kenne, schlage ich sie immer wieder auf. Und sie gibt mir auch heute noch Kraft und Trost in jeder Not.“
Tante Lisbeth stand auf und holte ihre Bibel. Sie musste gar nicht blättern, die Bibel sprang sofort an der gesuchten Stelle auf. „Siehst du, da steht es: ‚Ich vergesse dich nicht.’ Mir ist klar geworden, dass dieser Zuspruch Gottes nicht nur ein Geschenk für mich allein ist. Es ist ein Geschenk, das ich teilen und weitergeben kann, ohne dass es weniger wird. Ein Geschenk, das für ein ganzes Leben reicht – für jeden. Du musst es nur annehmen.“