Wer ruft zuerst an?

© Gisela Baltes

Da hatte mich eine, die ich für meine Freundin hielt, gekränkt. Nicht nur so ein bißchen die Oberfläche angeritzt, sondern meinen Stolz, meine Selbstachtung empfindlich verletzt. Ich war so fassungslos, daß ich es nicht einmal mehr schaffte, mich zu verteidigen. Ich war wie betäubt fortgegangen und hatte bitterlich geweint.

Normalerweise hab ich für Kränkungen ein angenehm schlechtes Gedächtnis. Diesmal nicht. Die üble Szene wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen und vergiftete alle meine Gedanken. Ungeduldig wartete ich auf ein klärendes Wort, eine Beteuerung des Bedauerns. Vergeblich! Offenbar fühlte sich meine Freundin völlig im Recht und hatte jedes Wort so gemeint, wie sie's gesagt hatte. Diese Vorstellung erbitterte mich noch mehr und machte mich unfähig, meinerseits eine klärende Aussprache herbeizuführen.

Das ist nun drei Jahre her. Seitdem habe ich oft darüber nachgedacht, wieso unsere Freundschaft diesen Streit nicht verkraftet hat. Erst viel zu spät ist mir aufgegangen, daß nicht nur ich Grund hatte, verletzt zu sein, sondern daß ich, bevor ich durch k.o.besiegt und sprachlos geworden war, mit herben Worten nicht gegeizt hatte. Und noch viel länger hat es gedauert, bis ich vor mir selbst zugeben konnte, daß die Worte, die meinen Stolz so sehr verletzt hatten, wenn auch nicht klug gewählt, so doch berechtigt waren.

Böse sind wir uns längst nicht mehr. Da wir viele gemeinsame Bekannten haben, laufen wir uns häufig über den Weg. Dann gehen wir sehr freundlich und behutsam miteinander um. Schließlich kennt jede von uns die andere und ihre Schwächen.

Wir scheinen uns bloß noch nicht einig darüber zu sein, wer von uns beiden die andere zuerst wieder anruft.