Das Leben umarmen

Das Leben umarmen

Kleine Anmerkung:
Zwar erzähle ich gern in der Ich-Form. Meine Geschichten sind deshalb aber nicht biografisch zu verstehen.

Das Leben umarmen

© Gisela Baltes

Nie habe ich eine lebenslustigere Frau kennen gelernt als meine Großmutter. Sie war spontan, temperamentvoll und immer für eine Überraschung gut. Mein Großvater dagegen war ernsthaft und grüblerisch. Das Leben schien ihm oft eine Last zu sein. „Du musst das Leben umarmen!“ sagte ihm meine Großmutter dann. Aber mein Großvater zuckte darauf nur hilflos die Schultern.

„Du musst das Leben umarmen!“ Wie oft hab ich diesen Spruch meiner Großmutter gehört. Was das bedeuten sollte, war mir völlig klar. Über dem Sofa meiner Großeltern hing nämlich seit eh und je ein Foto. Es zeigte Opa und Oma in herzlicher Umarmung beim Ehrentanz als Schützenkönig und Schützenkönigin. Für mich war es völlig selbstverständlich, dass es so aussah, wenn man das Leben umarmte. Hin und wieder versuchte ich, das mit meinem kleinen Bruder nachzumachen, was der gar nicht schätzte. Aber ich war stärker als er.

Eines Tages, als Oma mal wieder ihr Lebensmotto zum Besten gab, wollte ich mit meinem Wissen prunken und sagte: „Stimmt’s Oma, das Leben umarmen, das ist so wie auf dem Bild da.“ Oma stutzte einen Moment. Dann lachte sie und sagte: „Ja, manchmal ist das so wie Tanzen. Aber nicht immer.“

Ich muss sie wohl sehr verständnislos angesehen haben. Da zog sie mich auf ihren Schoß und machte mir aus ihren Armen ein Nest, wie das niemand besser konnte. „Warum nehm ich dich wohl in den Arm, Herzchen?“ fragte sie.
„Weil du mich lieb hast.“
„Genau!“ sagte die Oma. „Und das Leben umarmen heißt: das Leben lieb haben.“

Da kamen mir die vergeblichen Versuche mit meinem Bruder in den Sinn: „Aber der Benno mag das gar nicht, wenn ich ihn umarme.“
Oma lachte: „Ja, wenn er das nicht mag, dann musst du ihn auch wieder loslassen. Umarmen heißt nicht festhalten. Das wird dir im Leben immer wieder passieren, dass du wieder loslassen musst, was du umarmst.“
„Warum, weil ich das nicht mehr lieb habe?“
„Nein, lieb hast du das trotzdem weiter. Ich hab dich doch auch lieb, wenn du nicht auf meinem Schoß sitzen, sondern lieber rumlaufen und spielen möchtest.“

Das war das Stichwort für unser „Ich-hab-dich-trotzdem-lieb-Spiel“, das wir oft spielten, wenn ich bei ihr „kuschelte“.
Großmutter begann: „Du weißt, ich hab dich immer lieb“, und ich fuhr fort: „Auch wenn ich manchmal freche Wörter sage.“ Jetzt war Oma wieder dran: „Auch dann hab ich dich trotzdem lieb“.

Nun musste ich mir wieder etwas ausdenken: „Auch, als ich deine schöne Vase zertöppert hab.“ Oma schmunzelte: „Auch da hatte ich dich trotzdem lieb.“

Dieses Spiel setzten wir sonst endlos fort.

Aber diesmal machte Oma nicht weiter, weil es ihr wohl am Herzen lag, mir ihr Lebensmotto noch ein bisschen mehr zu erklären: „Ja, Herzchen, auch wenn du manchmal Sachen machst, die mich traurig machen, nehm ich dich in den Arm, weil ich dich trotzdem lieb hab. Und genauso kann man das Leben lieb haben, auch wenn einem da manchmal traurige Sachen passieren.“

Was sie mir damit sagen wollte, verstand ich erst einige Jahre später richtig, als bei meinem Großvater die Parkinsonsche Krankheit festgestellt wurde. Sein Zustand verschlechterte sich in immer neuen Schüben. Über Jahre hinweg versorgte ihn meine Großmutter mit der ihr eigenen Vitalität, ohne je zu klagen. So wie sie früher fröhliche und gute Zeiten genossen hatte, „umarmte“ sie nun auch diese schweren Zeiten.

Als Großvater schließlich starb, sah ich sie zum ersten und einzigen Mal weinen. Etwas unbeholfen umarmte ich sie und versuchte sie zu trösten: „Ich hab dich lieb Oma. Und auch der Opa hatte dich lieb. Aber ich glaube, der Opa wollte trotzdem nicht mehr leben.“ Oma schnäuzte sich und sagte: „Ja, Herzchen, ich weiß, ich muss ihn loslassen.“ Und dann, nach einer Pause, fuhr sie fort: „Und ich werde auch weiter das Leben lieb haben, auch wenn es mich traurig macht. Aber in den letzten Jahren hab ich gelernt, wie schwer es ist, in traurigen Zeiten das Leben zu umarmen. Oft hatte ich einfach nicht mehr die Kraft dazu und hab losgelassen und gedacht, dass nun alles aus ist. Und dann hab ich gemerkt, dass das Leben mich umarmt und mir Menschen geschickt hat, die mir wieder Kraft gegeben haben, so wie du jetzt gerade."

 

Denkanstöße für Gesprächskreise:
 

Die aufrichtige Umarmung ist eine liebevolle Geste, die dem anderen sagt: „Ich bin dir gut. Ich mag dich so, wie du bist.“ Sie ist nicht zu verwechseln mit Umklammerung oder dem Nicht-Loslassen-Wollen dessen, was wir lieben.

Das Leben umarmen heißt, lebendig zu sein, bewusst zu leben, das Leben selbst zu gestalten, weder gedankenlos vor sich hin zu leben, noch über lauter Sorgen und Grübeleien das Leben zu verpassen. Das Leben umarmen heißt, es mit offenen Armen zu empfangen, Ja zu sagen zu dem Leben, so wie es uns begegnet.

Die Großmutter in der Erzählung mag das Leben so, so wie es ihr begegnet. Sie umarmt das Leben, indem sie voller Enthusiasmus gute und frohe Zeiten genießt und sich mit der gleichen Bedingungslosigkeit auf schwere Zeiten einlässt. Vielleicht ist es gerade dieser Einstellung zu verdanken, dass sie auch die Erfahrung macht, dass gerade dann, wenn ihr selbst die Kraft zum Umarmen fehlt, das Leben ihr liebevoll entgegenkommt und sie in ihren Mitmenschen umarmt.

 

Versuchen Sie, die folgenden Sätze zu ergänzen:
Für mich heisst umarmen:...
Wenn ich umarme, erfahre ich …
Loslassen fällt mir schwer, weil …
Ich habe das Leben umarmt, als ich …
Ich hatte einmal keine Kraft mehr, weil …
Das Leben hat mich umarmt, indem …

Ergänzende Fragen:
- Welche Haltung nehme ich zum Leben ein?
- Wer bestimmt über mein Leben?
- Was würde ich gern ändern?
- Wie sehr lasse ich mich auf andere, auf das Leben ein?
- Wen oder was müsste ich loslassen?
- Warum habe ich manchmal Angst, loszulassen?