Als Papa alt wurde

Als Papa alt wurde

Kleine Anmerkung:
Zwar erzähle ich gern in der Ich-Form. Meine Geschichten sind deshalb aber nicht biografisch zu verstehen.

Als Papa alt wurde

© Gisela Baltes

Sie hat den Frühstückstisch schon gedeckt und wartet auf ihn.
Da hört sie ihn im Flur herankommen, seine schweren tapsigen Schritte.
Er öffnet die Tür.
"Guten Morgen!" sagt er und reicht ihr förmlich die Hand.
Sie drückt seine Hand flüchtig: "Guten Morgen, Papa! Komm setz dich hin, damit wir frühstücken können."
Er geht einmal um den Tisch herum. Dann zieht er seinen Stuhl zurück und lässt sich darauf fallen.

"Hab ich morgen Geburtstag?“ erkundigt er sich.
"Nein, Papa, erst in einem Monat."
"Ach so - nächsten Monat ..."
Die brüchige Altmännerstimme bleibt in der Luft hängen.
Sie nickt ihm zu: „Freust du dich schon darauf? Das wird bestimmt schön.“
„Was wird schön?“
„Dein Geburtstag.“
„Ach ja, mein Geburtstag. Ist der morgen?“

Sie reicht ihm den Brotkorb. Er nimmt sich eine Scheibe Brot und sieht sie an, als sähe er sie heute zum ersten Mal. Dann irrt sein Blick suchend über den Tisch. Sie reicht ihm die Butter, die vor ihm steht.

Er nimmt sein Messer, sticht ein winziges Stückchen Butter ab, streicht es auf sein Brot und wiederholt den Vorgang, einmal, zweimal, dreimal. Es juckt sie in den Fingern, ihm selbst das Brot zu streichen. Aber sie beherrscht sich. Es ist wichtig, dass er die wenigen Fertigkeiten, die er noch besitzt, immer wieder übt.

Wieder sieht er sich suchend um.
"Was möchtest du haben?"
"Marmelade."
"Da steht sie doch!"
Sie schiebt das Marmeladenglas ein bisschen näher zu ihm hin.

Er nimmt sich das Glas und gräbt mit dem Löffel darin herum. Er zieht den gefüllten Löffel heraus und packt die Marmelade auf das Brot. Noch ein weiterer Löffel folgt. Und noch einer. Und noch einer. Er drückte die Marmeladenhaufen mit dem Messer etwas flach. Nun ist sein Brot fertig.

Er schaut auf. In seinem Gesicht arbeitet es.
"Hast du die Karten denn schon verschickt?"
„Meinst du Einladungen?“
Er wird ärgerlich: „Nein, nicht Einladungen. Die Karten!“
"Die Geburtstagskarten? Nein, die kriegst du von den anderen.“
"Hab ich die denn schon?"
"Nein, noch nicht. Erst nächsten Monat.“
„Ach so.“

„Komm, Papa, iss dein Brot auf! Marmelade magst du doch so gern."
Er lächelt: "Ja, die mag ich gern."

Er teilt seine Brotscheibe bedächtig in zwei Hälften.
Nun halbiert der die Hälften mit derselben Sorgfalt.
Auch die Viertel teilt er.
Eine grässliche Matscherei mit all der Marmelade.
Sie mag gar nicht hinsehen.
Wortlos schiebt sie ihm seine Serviette näher.
Er wischt seine verklebten Finger ungeschickt ab.

"Kommen denn alle zu meinem Geburtstag?"
"Natürlich. Alle deine Geschwister kommen. Nur der Fritz nicht. Der ist krank!"
"Ach ja? Der Fritz ist krank …"

Er schiebt sich das erste Stückchen Brot in den Mund.
"Könnte ich wohl etwas Kaffee haben?"
"Trink erst mal. Deine Tasse ist noch voll!"
"Ach ja, das ist schön."

Er schlürft genüsslich seinen Milchkaffee.
Dann isst er ein weiteres Stückchen Brot.
Er schlürft und isst und schlürft und isst.
Seufzend schaut sie zu, wie die Stückchen auf seinem Teller nach und nach weniger werden.
Sie selbst hat ihr Brot längst gegessen.

"Hast du denn genug Kuchen gebacken für heute, wenn die alle kommen?"
"Nein, Papa, die kommen erst nächsten Monat."
"Ach ja - nächsten Monat ...."

Endlich ist er fertig.
Mehr als ein Brot isst er nie am Morgen.

"Was gibt es denn heute Mittag?"
"Königsberger Klopse."
"Ja, die esse ich gern."

Er steht auf und dreht sich einmal um sich selbst.
Bedächtig schiebt er seinen Stuhl wieder zurück an den Tisch.

"Ich helf dir noch beim Abräumen."
Er nimmt seinen Teller und trägt ihn zur Spülmaschine.
Sie öffnet die Spülmaschine und er stellt den Teller mitten hinein.
Nun holt er seine Tasse und stellt sie in die Spülmaschine.
Dann holt er noch sein Messer.
Sie hat inzwischen den Rest fortgeräumt.

Er geht zur Tür.
"Ich geh jetzt in mein Zimmer. Ich muss noch ein paar Papiere durchsehen."
"Ja, tu das Papa."

An der Tür dreht er sich noch einmal um.
"Wenn das Essen fertig ist, kannst du mich ja rufen."


Denkanstöße

Das ist so eine Sache mit der Geduld.
Brauchen würde ich sie dauernd.
Aber oftmals habe ich sie nicht. Leider!

Elisabeth Kübler-Ross vergleicht in ihrem Buch „Geborgen im Leben“ die Geduld mit einem Muskel, den man regelmäßig trainieren muss. Die Frau in der Geschichte hat reichlich Gelegenheit dazu, sich in Geduld zu üben. Ein kranker, ein verwirrter oder ein behinderter Mensch verlangt seiner Umgebung viel Geduld ab.

Hierzu ein weiterer Gedanke aus dem Buch von Kübler-Ross. Dort sagt eine junge Frau, deren Vater an Alzheimer erkrankt war: „Ich versuchte, daran zu denken, dass der Vater, den ich einmal gekannt habe, noch irgendwie in ihm drin steckte.“

Vielleicht ist das überhaupt der Schlüssel zur Geduld mit unseren Mitmenschen:
Nicht nur bei kranken, sondern bei jedem Menschen daran zu denken, wer da in meinem Gegenüber „drinsteckt“, ein Mensch nämlich, der - ebenso wie ich - Fehler und Schwächen hat, aber gewiss auch viele liebenswerte Eigenschaften.

Und dann gibt es noch die Ungeduld mit mir selbst:
Das Erreichen der Ziele, die ich mir vorgegeben habe, dauert mir zu lange. Überhaupt soll alles viel schneller gehen. Am liebsten würde ich zehn Dinge gleichzeitig machen. Ich werde ärgerlich, wenn mir etwas nicht auf Anhieb gelingt. Und eines Tages stelle ich fest, dass mein Körper mir ein immer bedächtigeres Tempo aufzwingt. Wie gut, wenn ich da beizeiten Geduld trainiert habe.

Aber es gibt auch Situationen, wo ich ungeduldig sein darf, ja sogar muss:
Wenn Mitmenschen unnötig Leid und Unrecht zugefügt wird. Wenn es darum geht, gegen Missstände zu kämpfen, gegen unzumutbare Lebensumstände, gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Dann darf ich mich nicht abwimmeln lassen, sondern ungeduldig auf die Änderung unhaltbarer Verhältnisse drängen.