Mutters Wunderkind

Mutters Wunderkind

Kleine Anmerkung:
Zwar erzähle ich gern in der Ich-Form. Meine Geschichten sind deshalb aber nicht biografisch zu verstehen.

Mutters Wunderkind
© Gisela Baltes, 2003

Solange ich denken kann, hatte meine Mutter nur ein Ziel: Sie wollte aus mir eine Berühmtheit machen. Und da ich ein leicht lenkbarer Junge war, ließ ich mich auf alle ihre Versuche friedfertig und eifrig ein.

Kaum war ich aus den Windeln, setzte sie mich vor ein Klavier. Aber da ich nur ziellos darauf herumklimperte und keine kleinen Musikstückchen erfand, sah sie ein, dass sie keinen jungen Mozart geboren hatte.

Aber so schnell gab meine Mutter nicht auf. Sie kaufte mir allerlei Malutensilien und beobachtete gespannt, was ich damit wohl anfangen würde. Mit großer Selbstüberwindung ließ sie es zu, dass ich alle Wände meines Kinderzimmers bekritzelte, bemalte, beschmierte, bespritzte. Dann war sie einsichtig genug, diesem Treiben ein Ende zu machen. Sie nahm mir sämtliche Malutensilien weg und bestellte einen Anstreicher, der die Wände neu tapezierte.

Danach hege sie die Hoffnung, dass in mir vielleicht ein künftiger Bestsellerautor schlummerte. So setzte sie es durch, dass ich bereits mit vier Jahren lesen und schreiben lernte. Als ich diese Künste einigermaßen beherrschte, gab sie mir einen Stoß Hefte, in die ich kleine Kindergeschichten schreiben sollte. Zum Glück hatte ich noch ein paar Farbstifte von der Mal-Orgie vor ihrem Zugriff gerettet. So kritzelte ich in die Hefte mit großem Eifer ein buntes Heer von Strichmännchen, malte zu jedem eine Sprechblase und schrieb dort „Peng“ oder „Au“ oder „Bum“ und ähnliche ausdruckstarke Wörter hinein. Das war aber offenbar nicht das, was meine Mutter von einem angehenden Autor erwartete.

So verfiel sie schließlich auf die Idee, aus mir eines dieser schauspielernden Wunderkinder zu machen. Vielleicht hätte sie Erfolg damit gehabt, wenn ich ein Mädchen oder doch wenigstens etwas hübscher gewesen wäre. Aber ich war ein ganz und gar durchschnittlicher Junge mit abstehenden Ohren und widerspenstigen Haaren. Außerdem lispelte ich erbarmungswürdig. Das konnte meine Mutter aber nicht im mindesten schrecken. Ich erhielt Sprechunterricht und lernte unter vielen Tränen ein korrektes S zu sprechen und das R interessant zu rollen, so wie es die großen Schauspieler machen. Außerdem lernte ich, reinrassiges Hochdeutsch zu sprechen, eine gar schwierige Kunst für jemanden, der in breitem Pfälzisch aufgewachsen war.

Dieser erste Erfolg beflügelte meine Mutter. Aber durch ihre ersten Fehlschläge vorsichtig geworden, zögerte sie noch, mich bei einem Kindercasting vorzustellen. Da ich mich in ihren Augen viel zu ungelenk bewegte, meldete sie mich in einer Tanzschule an, wo ich nicht nur Tanzen sondern auch richtiges Gehen lernen sollte. Es störte mich anfangs etwas, dass ich der einzige Junge in diesem Kurs war. Aber die Mädchen hatten sich rasch an mich gewöhnt. Und mit ihnen lernte ich auf den Spitzen gehen und tanzen und außerdem elegant zu schreiten und mich überhaupt sehr anmutig zu bewegen.

Meine Ausbildung hatte einiges an Zeit in Anspruch genommen. Ich muss so etwa neun Jahre alt gewesen sein, als meine Mutter meinte, nun wäre ich so weit. Eine Freundin meiner Mutter hatte in Erfahrung gebracht, dass Kinder für eine Neuverfilmung von „Heidi“ gesucht würden. Meine Mutter hielt das für einen Wink des Schicksals und meldete mich zum Casting an.

Es hätte ihr zu denken geben sollen, dass man mir die Nummer 13 zuteilte. Aber meine Mutter war nicht abergläubisch und ganz zuversichtlich. Da ich kein Kleinkind mehr war, trennte man mich von ihr. Eine freundliche Dame nahm mich mit in einen anderen Raum und gab mir ein paar Sachen, die ich anziehen sollte: eine ausgebeulte Hose, ein hässliches Jägerhütchen. Offenbar hatte man dort nicht viel Geld. Die Socken, die ich anziehen sollte, hatte arge Löcher. Es war mir etwas peinlich, weil mein dicker Zeh, der sich durch eines dieser Löcher bohrte, nicht so ganz sauber war. Und da man mir nur Sandalen dazu gegeben hatte, ließ sich das nicht verbergen. Das war nun leider nicht zu ändern. Aber ich nahm mir vor, diesen Mangel dadurch auszugleichen, dass ich mein Bestes geben würde.

Die freundliche Frau nickte anerkennend bei meinem Anblick. Offenbar war ihr der schmutzige Zeh entgangen. Sie führte mich in einen anderen Raum, in dem drei Männer und eine Frau saßen. Auch die schienen meinen schmutzigen Zeh nicht zu bemerken, denn sie nickten ebenfalls sehr anerkennend.
„Grad so hab ich mir den Peter vorgestellt. Da stimmt alles: die Haare, die Ohren, der Blick“, meinte die Frau.
Darüber staunte konnte ich nur staunen. Denn mittlerweise wusste ich, dass Haare und Ohren nicht gerade die schönsten Teile an mir waren. Und mein Blick? Da wusste ich nicht so recht, was sie damit wohl meinte.

Einer der Männer gab ein Grunzen von sich, das zustimmend klang. Nun ja, wenn ich den beiden gefiel, konnte das nicht schaden. Damit hatte ich immerhin schon zwei der Prüfer auf meiner Seite. Und ich war fest entschlossen, die anderen drei auch noch zu überzeugen.

„Sag mal: Mei Groasmutta. Dös is aba a Freid!“ forderte mich nun der Grunzer auf. Also dem hätte ein bisschen Sprecherziehung auch nicht geschadet, dachte ich. Aber ich würde denen schon zeigen, was ich drauf hatte. So sagte ich in meinem besten Hochdeutsch sehr laut und klar. „Meine liebe Großmutter. Das ist aber eine Freude!“ Das „liebe“ hatte ich hinzu gesetzt, weil mir schien, dass das etwas herzlicher klang. Das hätte ich vielleicht nicht tun sollen. Jedenfalls schien das den Leuten nicht zu gefallen.

Die Frau, die mich gebracht hatte, sagte: „Das ginge nur, wenn wir das …“ Und dann gebrauchte sie ein mir unverständliches Wort, das, wie ich heute glaube, wohl „synchronisieren“ war.

„Kann er denn wenigstens gehen?“ fragte nun einer der beiden Männer, die bis jetzt noch nichts gesagt hatten. Und ob ich das konnte. Nun hatte ich endlich die Gelegenheit zu zeigen, was ich in drei Jahren Tanzschule gelernt hatte. Mit anmutig erhobenen Haupt schritt ich elegant zehn Schritte vorwärts und zehn wieder zurück. Das war gar nicht so leicht mit diesen komischen Sandalen. Aber ich schaffte das ohne den kleinsten Patzer.

„So geht doch kein Bauernjunge!“ meinte die zweite Frau. Das will ich meinen, dachte ich und freute mich über die Anerkennung. Die Frau, die mich gebracht hatte, gab mir nun einen dicken Knüppel in die Hand und sagte: „Jetzt geh mal ein paar Schritte und stell dir vor, du würdest ein paar Ziegen vor dir her treiben.“

„Ein paar Ziegen?“ Gut, dass meine Mutter das nicht hören konnte. Sie war immer sehr ärgerlich geworden, wenn ich Mädchen als Ziegen bezeichnet hatte. „Vor dir hertreiben?“ Ich erinnerte mich an eine schwierige Übung in der Tanzschule, bei der ich auf Zehenspitzen hinter den Mädchen her eilen musste. Vielleicht nannte man so was hier „vor dir her treiben“. Ich konzentrierte mich und stellte mir vor, dass die Mädchen vor mir her huschten. Gleichzeitig erhob ich mich blitzschnell auf die Zehenspitzen, was mit diesen blöden Sandalen kaum zu schaffen war, und eilte mit geschmeidigen Bewegungen hinter den imaginären Mädchen her - soweit die Sandalen das zuließen.

Danach nahm die freundliche Frau mich bei der Hand und brachte mich wieder raus. Ich war sehr froh und erleichtert, dass alles so gut geklappt hatte.

Meine Mutter war zuerst sehr enttäuscht, als man ihr mitteilte, dass ich für die Rolle nicht geeignet sei. Ich versicherte ihr, dass ich wirklich mein Bestes gegeben hatte. Da streichelte sie mir über den Kopf. Und seitdem durfte ich endlich ein ganz normaler Junge sein.