Lass gut sein

Lass gut sein

Kleine Anmerkung:
Zwar erzähle ich gern in der Ich-Form. Meine Geschichten sind deshalb aber nicht biografisch zu verstehen.

Lass gut sein
© Gisela Baltes

Ein Anruf, früh am Morgen. Ruth ist am Telefon.

„Ruth! Wie schön, mal wieder etwas von dir zu hören!“ begrüßt Britta ihr Patenkind. „Wie geht’s dir denn?“

Aber Ruth will diesmal kein Schwätzchen halten. „Es geht um Mutter“, antwortet sie.

Britta spürt, wie sie innerlich ganz starr wird: „Du weißt. Davon möchte ich nichts hören.“

„Aber dieser dumme Streit muss doch mal ein Ende haben.“

„Ach ja? Und warum rufst DU an und nicht deine Mutter?“

„Weil sie nicht sprechen kann. Sie liegt im Marienhospital auf der Intensivstation. Sie hatte einen Schlaganfall.“

„Wird sie sterben?“

„Nein. Der Arzt sagt, die Chancen stehen recht gut, dass sie sich wieder erholt. Aber ich dachte, du möchtest vielleicht kommen.“

Es wird still am Telefon. Schließlich fragt Britta: „Und woher willst du wissen, ob sie mich überhaupt sehen will?“

„Das weiß ich nicht. Aber auch du wirst das nur erfahren, wenn du kommst.“

„Ich weiß nicht, ob ich das kann.“

„Denk darüber nach!“ bittet die Nichte und beendet das Gespräch.

Britta legt den Hörer auf.

 

Achtzehn Jahre ist der Streit mit ihrer Schwester nun her. Damals war ihre Mutter gestorben, kurz nach dem Vater. Die beiden Töchter hatten ohne große Probleme das Erbe aufgeteilt. Nur über den kleinen Bronze-Engel konnten sie sich nicht einigen. Mutter hatte sich nie von ihm getrennt, selbst auf der Flucht nicht. Er war das einzige Stück, das sie hatte retten können. „Das ist mein Schutzengel“, hatte sie immer gesagt.

„Er steht mir zu. Ich bin die Ältere.“ hatte Marga behauptet. Aber Britta hatte darauf beharrt, dass Mutter ihr den Engel schon immer versprochen hatte. Als sie sich nicht einigen konnten, hatte Britta den Engel einfach ergriffen und mit ihm die Wohnung verlassen. Seitdem sprachen die beiden Schwestern kein Wort mehr miteinander.

 

Britta hatte den Engel damals auf den Sims über dem Kamin gestellt. Und dort steht er immer noch. Es gibt keinen Tag, an dem sie ihn nicht herunter nimmt und mit ihm spricht.

Auch jetzt nimmt sie ihn in die Hand. Aber diesmal redet nicht sie zu ihm, sondern er spricht mit ihr. Sie versteht ganz genau, was er ihr sagt. So stellt sie ihn diesmal nicht zurück. Zögernd zieht sie ihren Mantel an und steckt den kleinen Engel in die Tasche. Dann macht sie sich auf den Weg.

Ruth erwartet sie schon. Dann steht Britta am Bett ihrer Schwester. Marga hat die Augen geschlossen. Die strengen Falten in ihrem Gesicht haben sich in den langen Jahren noch vertieft. Britta bringt kein Wort heraus. „Mutter, Britta ist hier“, sagt Ruth. Marga schlägt die Augen auf. Britta nimmt ein zorniges Aufblitzen wahr. Dann wendet Marga den Kopf ab. Für eine Weile ist es still im Zimmer.

„Lass gut sein, Marga“, sagt Britta schließlich, nimmt die Hand der Schwester und legt den kleinen Engel hinein.

 

Denkanstöße für Gesprächsgruppen

Zwei Schwestern, die seit achtzehn Jahren nicht mehr miteinander reden. Wer bei dem Streit im Recht war, wird sich nie feststellen lassen. Britta hat sich ihr Recht einfach genommen. Der Preis dafür ist die seit achtzehn Jahren andauernde Feindschaft. Der kleine Engel hält den Schmerz darüber wach. Statt mit der Schwester spricht Britta fortan mit ihm. Und es ist schließlich der kleine Engel, der ihr „sagt“, was sie tun soll. Er war der Anlass zu ihrem Streit und soll den Anstoß geben, die schmerzliche Entfremdung zu heilen. Achtzehn Jahre hatte Britta den kleinen Engel, für die folgenden Jahre soll er der Schwester gehören. Britta will nicht weiter auf ihrem Recht bestehen, sondern Gerechtigkeit herstellen. „Lass gut sein!“ sagt Britta. Denn nur, was wir wieder gut sein lassen, kann heilen.

 

Fragen, die weiterhelfen:

- Was ist unheil in meinem Leben?

- Was davon lässt sich wieder heilen?

- Was kann ich selbst dazu tun, damit wieder gut wird, was unheil ist in meinem Leben?