Pass gut auf dich auf, Kind!

Pass gut auf dich auf, Kind!

Kleine Anmerkung:
Zwar erzähle ich gern in der Ich-Form. Meine Geschichten sind deshalb aber nicht biografisch zu verstehen.

Pass gut auf dich auf, Kind!

© Gisela Baltes 

 

"Es ist vorbei", sagte er. Und bevor sie noch etwas fragen oder sagen konnte, legte er auf.

Sie hatte diesen Anruf erwartet. Sie sah auf den Wecker. 4 Uhr. Mühsam wälzte sie sich aus dem Bett und tappte im Dunkeln in die Küche. Ohne Licht zu machen, goss sie sich ein Glas Wasser ein. Dann trat sie hinaus auf die Terrasse. Es war kaum abgekühlt. Sie setzte sich schwerfällig auf einen der Stühle und starrte in den dunklen Garten.

Seit Wochen hatte er sie bedrängt. "Komm!" hatte er gesagt. "Komm, solange noch Zeit ist." Sie hatte versucht, ihm zu erklären, dass eine so weite Reise in ihrem Zustand ein unnötiges Risiko darstellte. "Es dauert doch nur noch ein paar Wochen", hatte sie ihn vertröstet. "Und dann komme ich ganz bestimmt." "Dann ist es vielleicht schon zu spät", hatte er sie gewarnt. Er war schon immer ein Schwarzseher gewesen. Deshalb hatte sie seine Befürchtungen nicht ernst genommen. Wie hätte sie ahnen können, dass er diesmal recht hatte.

Sie hatte jeden Tag mit ihrer Mutter telefoniert: Wie war das Essen? Hast du gut geschlafen? Wie ist das Wetter bei euch? Was man eben so sagt. Lauter Nebensächlichkeiten!
Ihre Mutter hatte verstanden, dass sie jetzt nicht kommen konnte. "Mach das so, wie du meinst, Kind", hatte sie gesagt. "Die paar Wochen gehen schnell vorbei. Ich freu mich schon auf mein Enkelkind." Nein, ihre Mutter hatte sie nie bedrängt. Ihre Mutter stellte nie Ansprüche. "Pass gut auf dich auf, Kind!" hatte sie immer zum Schluss gesagt.

Vor drei Wochen war Bernd für ein paar Tage hingefahren, um zu sehen, ob es wirklich so schlimm stand, wie ihr Vater sie glauben machen wollte. "Es geht ihr ganz gut", hatte Bernd sie beruhigt. "Du kennst ja deinen Vater! Der befürchtet immer gleich das Schlimmste."
Und dann war alles ganz schnell gegangen. Voller Panik hatte sie entschieden, nun doch noch zu fahren. "Jetzt brauchst du nicht mehr zu kommen", hatte ihr Vater am Telefon bitter gesagt "Sie kann dich nicht mehr erkennen." Und fast glaubte sie, Genugtuung in seiner Stimme zu hören, als er hinzufügte: "Sie hat auch nicht mehr nach dir gefragt."
Warum hatte ihre Mutter nicht mehr nach ihr gefragt?

War sie enttäuscht gewesen, weil ihre Tochter sie im Stich gelassen hatte? "Du liebst uns nicht mehr!" hatte ihr Vater ihr einmal vorgeworfen. "Mich kannst du nicht mehr enttäuschen! Ich erwarte ja keine Dankbarkeit. Aber deine Mutter, die verdient das nicht. Die hat doch immer alles für dich getan."

Erinnerungen stürzten auf sie ein, Erinnerungen an viele kleine Begebenheiten: Mutter, die für sie da war, wenn sie Sorgen hatte oder wenn sie krank war, die sich für sie einsetzte, wenn der Vater allzu streng war, die für sie kämpfte, wenn sie glaubte, ein Lehrer habe sie ungerecht behandelt. Erinnerungen an eine zärtliche Mutter und ein liebevolles kleines Mädchen. Aber auch Erinnerungen an ein junges widerspenstiges Mädchen, das eigene Wege gehen, Geheimnisse nicht mehr mit der Mutter teilen wollte, das sich von der Liebe der Mutter bedrängt und eingeengt fühlte. Ihre Mutter hatte sich nie beklagt. Vorwürfe, sie sei keine gute Tochter, waren immer nur vom Vater gekommen. Und die Mutter hatte sie wie früher verteidigt.

Plötzlich wusste sie, warum ihre Mutter nicht mehr nach ihr gefragt hatte. Bis zuletzt hatte die Mutter sie davor bewahren wollen, sich für ihr Fernbleiben schuldig zu fühlen. Diese behütende Liebe war so sehr ein Teil ihrer Mutter geworden, dass ihr Verhalten auch noch davon bestimmt war, als sich im Prozess des Sterbens ihr Bewusstsein getrübt hatte.

Da endlich flossen Tränen. Sie weinte um ihre Mutter, die nun tot war und die eine liebevollere Tochter verdient hätte. Sie weinte um ihren Vater und seine Bitterkeit. Und sie weinte um sich selbst und ihr Versagen. Sie weinte und weinte.

So viele Tränen - und wie üblich kein Taschentuch! Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Die Dunkelheit war in ein fahles Morgenlicht übergegangen. Sie erkannte, dass in der Vogeltränke kein Wasser mehr war. Die Blätter der Hortensie hingen schlaff herunter. Sie hatte gestern Abend vergessen, sie zu gießen. Sie sah sich nach der Gießkanne um.

"Das ist nicht vorbei, noch lange nicht", dachte sie und stemmte sich hoch. Erstaunt registrierte sie, dass Wasser an ihren Beine herunter lief. Im gleichen Augenblick fuhr ihr ein heftigen Schmerz durch den Leib. Sie wartete, bis er verebbt war.

Dann ging sie hinein und weckte ihren Mann: "Steh auf. Es geht los."


 

Denkanstöße

Die Liebe zwischen Eltern und Kindern
In der Geschichte erfährt eine junge Frau vom Tod ihrer Mutter und denkt über die Liebe nach, die sie empfangen und die sie gegeben hat.

Von Anfang an besteht in der Liebe zwischen Mutter und Kind ein Ungleichheitsverhältnis, in dem die Mutter mehr gibt, als sie zurück erhält. Eine solche Liebe, die an keine Bedingungen geknüpft ist, erfuhr das Kind meist eher von der Mutter als vom Vater. Ihre Feuerprobe hat die mütterliche bzw. elterliche Liebe aber erst zu bestehen, wenn das Kind heranwächst und Mutter und Vater die Loslösung des Kindes nicht nur dulden, sondern sogar fördern und wünschen müssen.

Idealvorstellungen einer solchen Liebe zu entsprechen gelingt vielleicht nie. Auch die Mutter in unserer Geschichte war nicht immer nur selbstlos. So erinnert sich die Tochter an Zeiten, in denen sie die Liebe ihrer Mutter als besitzergreifend und einengend empfunden hat. Erich Fromm nennt sein Buch über alle diese Aspekte der Liebe ganz bewusst “Die Kunst des Liebens”. Liebe, die zunächst als Geschenk empfangen oder gegeben wird, verkümmert, wenn wir uns nicht immer wieder neu mit ihr auseinander setzen, um Könner dieser Kunst zu werden, ob es sich dabei nun um die Liebe zwischen Eltern und Kindern oder um die Liebe zwischen Partnern handelt.

Die folgenden Fragen sollen Sie zu einer Auseinandersetzung mit den Gefühlen für Ihre Eltern anregen:

  • Wie habe ich meine Mutter/ meinen Vater erlebt:
    - als Kind,
    - als Jugendlicher/r,
    - im frühen Erwachsenenalter?
  • Was gefiel mir an ihnen?
  • Woran habe ich mich gerieben?
  • Wie erlebe ich sie heute?
  • Was liebe ich an meiner Mutter/meinem Vater?
  • Wie sieht mein Idealbild eines Vaters / einer Mutter aus?

Sich schuldig fühlen
Die junge Frau in unserer Geschichte musste wählen zwischen der Liebe zu ihrer Mutter und der Liebe zu ihrem ungeborenen Kind, das sie durch eine weite Reise nicht gefährden wollte. Sie hatte sich für ihr Kind entschieden, weil sie glaubte, damit das Richtige zu tun. Dennoch empfindet sie jetzt Schuldgefühle, weil sie nicht da war, als ihre Mutter sie vielleicht brauchte. Gleichzeitig erkennt sie, dass das, was sie hier als Schuld empfindet, von der Liebe der Mutter längst aufgehoben ist. Das wird ihr helfen, mit diesem inneren Widerstreit fertig zu werden und ihrem Kind eine ebenso liebevolle Mutter zu sein.

Schuldgefühle können uns lähmen und niederdrücken, wenn wir nicht akzeptieren, fehlerhafte Menschen zu sein, die es trotzdem verdienen, geliebt zu werden. Nur in einer produktiven Auseinandersetzung mit unseren Schuldgefühlen, können wir Versagen überwinden und zu einem Neuansatz finden.

Die folgenden Gedanken können Ihnen helfen, konstruktiv mit Ihren Schuldgefühlen umzugehen:

  • Ich habe einen Fehler gemacht
    - Ich bin nicht fehlerlos.
    - Ich werde daraus lernen.
    - Ich habe mich falsch verhalten.
    - Ich habe so gehandelt, weil ich es für richtig hielt.
    - Ich war mir nicht über die Konsequenzen klar.
  • Ich habe einen Schaden angerichtet.
    - Ich übernehme die Verantwortung dafür.
    - Ich werde versuchen, den Schaden wieder gut zu machen.
  • Ich habe etwas Schlechtes getan.
    - Deshalb bin ich aber nicht gleich ein schlechter Mensch.