Ich vergesse dich nicht

Ich vergesse dich nicht

Kleine Anmerkung:
Zwar erzähle ich gern in der Ich-Form. Meine Geschichten sind deshalb aber nicht biografisch zu verstehen.

Ich vergesse dich nicht
© Gisela Baltes

,,Dein Gottvertrauen möchte ich haben!“ Wie oft habe ich das zu meiner Tante Lisbeth gesagt. Und das meinte ich durchaus ernst. Denn niemals ist mir jemand begegnet, der sich darin mit ihr messen kann. Obwohl sie in ihrem Leben schon viele Schicksalsschläge einstecken musste, ist sie nie verzweifelt. Immer glaubte sie fest daran, dass ihr ,Herrgott’ ihr in jeder Notlage beistehen würde. Das half ihr, auch die schlimmsten Krisen zu überstehen.

,,Wie bist du eigentlich zu diesem felsenfesten Gottvertrauen gekommen?“ habe ich sie einmal gefragt. Sie wollte so recht nicht mit der Sprache herausrücken. Das machte mich erst wirklich neugierig, und ich ließ nicht locker, bis sie zu erzählen begann:

,,Früher war ich viel bei meiner Oma. Immer, wenn Oma bei einem unlösbar scheinenden Problem keinen Rat wusste, sagte sie: „Dann müssen wir eben den lieben Gott fragen.“

„Ach, sie hat gebetet.“ unterbrach ich meine Tante. „Aber da kriegt man doch keine Antwort.“

Meine Tante lächelte: „Du kanntest meine Oma nicht. Wenn die von Gott eine Antwort brauchte, dann bekam sie die auch. Sie holte sich die in der Bibel. Die schlug sie mit geschlossenen Augen auf und tippte dann blind mit ihrem Zeigefinger auf eine Stelle der aufgeschlagenen Seiten. Dann las sie sehr sorgfältig, was da stand. Und wenn sie Glück hatte ergab sich aus dem Gelesenen eine Antwort auf ihre Frage.“

Ich unterbrach meine Tante: „Im Ernst? Die Bibel als Orakelbuch?“

Meine Tante lächelte: „Ich verstehe deinen Einwand. Aber ganz so eng sah das meine Oma nicht. Sie ging davon aus, dass alles in der Bibel in irgendeiner Form wegweisend war. Wenn sie also in der aufgeschlagenen Bibelseite keine Antwort fand, gab sie Gott noch weitere Chancen und schlug so lange eine weitere Seite auf, bis sie endlich eine Stelle fand, die passte.“

„Und das klappte?“ zweifelte ich. Die Tante lächelte: „Mit etwas Geduld immer.“

Nun wollte ich aber noch mehr wissen: „Machst du das auch und beziehst daraus dein Gottvertrauen?“

„Sei doch nicht so ungeduldig!“ bremste mich meine Tante. ,,Lass mich erst mal zu Ende erzählen.“

So fuhr sie fort: ,,Wie du vielleicht weißt, ist meine Mutter sehr früh gestorben. Ich war damals noch ein Kind und konnte nicht begreifen, dass ich sie nun nie mehr sehen würde. Ganz verzweifelt fragte ich die Oma, ob mich meine Mama denn nicht lieb gehabt und deshalb verlassen hätte. Meine Oma versicherte mir, dass die Mama mich immer lieb gehabt hätte und auch weiter lieb haben würde. Aber jetzt sei sie beim lieben Gott. Vergessen würde sie mich bestimmt nie. Dann nahm die Oma mich in den Arm und wiegte mich hin und her. Aber ich konnte nicht aufhören zu weinen. Schließlich wusste sie sich keinen anderen Rat mehr, holte ihre Bibel und schlug mit vor, den lieben Gott zu fragen. Für einen Augenblick war ich abgelenkt. Denn dieses Vorgehen hatte ich zwar immer wieder bei ihr beobachtet, aber noch nie selbst gemacht.

Der Vers, auf den ich tippte, war Jes 49,15: ‚Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht.’ Oma erklärte mir, mit dem leiblichen Sohn sei das nicht so wörtlich zu nehmen. Das gälte auch für eine Tochter. Und das wäre auch nur eine Scheinfrage, weil die Antwort sonnenklar sei. Es wäre also schon mal ganz sicher, dass die Mama mich lieb habe und nie vergessen würde, auch wenn sie jetzt nicht mehr bei mir sein könne. Aber ganz wichtig sei auch der zweite Teil. Damit wolle der liebe Gott mir unzweifelhaft sagen, dass er mich nie im Stich lassen würde, erst recht jetzt nicht, wo die Mama nicht mehr bei mir sein könne. Brauchte es noch mehr Beweise? Die Tränen versiegten, und ich fühlte mich sehr getröstet.“

Wir schwiegen eine Weile. Schließlich griff ich den Faden wieder auf: „Hast du auf diese Weise auch später noch versucht, eine Antwort von Gott zu bekommen?“

,,Nein,“ lächelte meine Tante, „denn ich habe ja bereits als Kind eine Antwort bekommen, die für ein ganzes Leben reicht: ‚Ich vergesse dich nicht!‘ Ich habe oft darüber nachgedacht, ob es nun ein Zufall oder Fügung war, dass ich in meinem Kummer damals gerade auf diese tröstliche Stelle gestoßen bin. Sie war ein Geschenk für mich, ein Geschenk für mein ganzes weiteres Leben. ‚Ich vergesse dich nicht.’ Obwohl ich diese Stelle längst auswendig kenne, schlage ich sie immer wieder auf. Und sie gibt mir auch heute noch Kraft und Trost in jeder Not.“

Tante Lisbeth stand auf und holte ihre Bibel. Sie musste gar nicht blättern, die Bibel sprang sofort an der gesuchten Stelle auf. „Siehst du, da steht es: ‚Ich vergesse dich nicht.’ Mir ist klar geworden, dass dieser Zuspruch Gottes nicht nur ein Geschenk für mich allein ist. Es ist ein Geschenk, das ich teilen und weitergeben kann, ohne dass es weniger wird. Ein Geschenk, das für ein ganzes Leben reicht – für jeden. Du musst es nur annehmen.“

 

 

 

Vertrau auf Gott

 

"Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen,

eine Mutter ihren leiblichen Sohn?

Und selbst wenn sie ihn vergessen würde:

ich vergesse dich nicht." Jes 49,15

 

"Ich vergesse dich nicht."

 

Dieser Zuspruch Gottes

ist ein Geschenk -

nicht für mich allein,

sondern für jeden von uns.

 

Ein Geschenk

für dich und mich,

für Männer und Frauen,

für Junge und Alte.

 

Ein Geschenk,

das wir teilen und

weitergeben können,

ohne dass es weniger wird.

 

Eine Zusage Gottes,

die für unser ganzes Leben reicht.

Wir müssen dieses Geschenk

nur annehmen.

 

Gisela Baltes