Feigling?

Feigling?

Kleine Anmerkung:
Zwar erzähle ich gern in der Ich-Form. Meine Geschichten sind deshalb aber nicht biografisch zu verstehen.

Feigling?
Gisela Baltes

Peter ist beim Essen auffallend still. „Was ist los?“ fragt seine Mutter ihn. Er will nicht so recht mit der Sprache raus. Schließlich fragt er: „Glaubst du, dass ich feige bin?“ Sie merkt, wie wichtig ihm ihre Antwort war. Deshalb lässt sie sich einen Augenblick Zeit zum Überlegen. Dann sagt sie mit Nachdruck: „Nein, das glaube ich nicht. Ganz und gar nicht.“

Wieder ist es eine Weile still. Sie will ihn nicht drängen und wartet.
Schließlich sagte er trotzig: „Die sagen aber, ich wäre feige.“
„Wer? Deine Freunde?“
Er macht eine vage Geste. „Alle.“
„Haben die denn einen bestimmten Grund dafür?“
„Ja. Ich hab den Mirko nicht verprügelt.“
„Mirko. Ist das nicht der Neue?“
„Ja, der Zigeuner.“
Er weiß, dass sie dieses Wort nicht mag. Aber im Augenblick lässt sie es so stehen. Stattdessen fragt sie: „Hat er dich denn geärgert?“
„Nein!“
„Warum solltest du dich dann mit ihm prügeln?“

„Das ist es ja gerade!“ bricht es nun aus ihm heraus. „Der hat mir nichts getan. Und den anderen auch nicht. Aber er ist eben anders. Keiner kann ihn leiden. Und da haben wir eben beschlossen, dass ihn jeden Tag einer verprügelt. Und heute war eben ich dran.“

Er merkt, dass sie das erst einmal verdauen muss. Deshalb fährt er fort: „Also, der Mirko wohnt doch in dem Haus an dem kleine Weg. Du weißt doch, wo die lange Fabrikmauer auf der einen Seite ist und auf der anderen Seite die Friedhofsmauer. Da muss der immer durch. Und da warten wir immer auf ihn. Manchmal versucht der uns auszutricksen und läuft ganz schnell. Aber wir kriegen ihn immer. Aber sich mit ihm prügeln darf immer nur einer. Sonst ist das ja unfair. Wir anderen gucken dann immer nur zu.“

„Und heute warst du also dran.“
Er nickt.
„Aber du hast dich nicht mit ihm geprügelt.“
„Nein.“
„Und warum?“
„Der ist ziemlich stark. Und ich hab nicht so viel Übung.“

„Nicht so viel Übung? Weil ich immer sage, du sollst dich mit Worten verteidigen, nicht mit Hauen?“
Er nickt.
„Du hattest also Angst. Und deshalb hast du dich nicht geprügelt.“
Wieder nickt er. „Und jetzt sagen die anderen, dass ich feige bin.“

Wieder ist es still am Tisch.
Sie überlegt lange. Schließlich sagt sie: „Das stimmt!“
Überrascht schaut er auf. Damit hat er nicht gerechnet.
„Du meinst also auch, dass ich feige bin?“
Sie nickt. Das muss er erst mal verdauen.
„Und du meinst tatsächlich, ich hätte mich mit dem Mirko prügeln sollen?“
Sie schüttelt den Kopf.
„Nein, nein, das hab ich nicht gesagt.“
„Aber du sagst trotzdem, dass ich feige bin.“
Sie nickt.
„Also, jetzt versteh ich überhaupt nichts mehr! Was meinst du denn eigentlich?“
„Ach, das findest du schon selbst raus.“ antwortet sie.

Als Peter am nächsten Mittag heimkommt, sieht er sehr abenteuerlich aus. Sein rechtes Auge ist angeschwollen. Ein dicker Kratzer läuft über seine linke Wange. Sein Pulli ist zerrissen. Und sein Knie ist aufgeschlagen. Trotzdem wirkt er ganz vergnügt und zufrieden.

„Du hast dich also doch geprügelt.“ stellt sie fest.
„Ja, und wie!“ grinst er fröhlich. Bei dem geschwollen Auge sieht das grauenhaft aus. Aber ihn scheint das nicht zu beeinträchtigen. Und dann berichtet er stolz: „Zuerst hab ich versucht, den anderen das mit dem Prügeln auszureden. Aber die haben mich bloß ausgelacht und gemeint, das sag ich nur, weil ich zu feige bin. Und als der Mirko dann kam, hat der Uwe sich auf den gestürzt. Der war nämlich heute dran. Der Uwe ist ziemlich stark. Viel stärker als der Mirko. Aber dann hab ich dem Mirko geholfen. Zu zweit sind wir ganz gut. Aber zwei gegen einen geht auch nicht. Da haben die anderen sich auch eingemischt. Ein paar haben dem Uwe geholfen. Und ein paar haben dem Mirko und mir geholfen.“

„Und dann?“
„Och, wir waren ziemlich gleich stark. Irgendwann haben wir dann aufgehört und uns gegenseitig sauber gemacht. Der Mirko auch. Ich glaub, morgen verprügelt den keiner mehr.“