Unglücklich sein

Unglücklich sein

Kleine Anmerkung:
Zwar erzähle ich gern in der Ich-Form. Meine Geschichten sind deshalb aber nicht biografisch zu verstehen.

Die Kunst, unglücklich zu sein und zu bleiben

© Gisela Baltes

Als Mensch mit einem natürlichen Talent zum Unglücklichsein fühle ich mich berufen, der  anregenden "Anleitung zum Unglücklichsein" von  Paul Watzlawick ein weiteres Kapitel anzufügen. Ich werde Ihnen zeigen, wie Sie Unstimmigkeiten mit Ihren Mitmenschen sehr effektiv in diesem Sinne nutzen können.

Kleine Streitereien im Alltag  sind Ihnen gewiss vertraut. Im Eifer eines solchen Gefechts hat Ihnen ein lieber Mitmensch vielleicht unbedacht ein paar kränkende Bemerkungen an den Kopf geworfen.  Mit ein wenig Geschick können Sie daraus Stoff für monatelanges Unglücklichsein schöpfen.

Damit Sie die Kränkungen so schnell nicht vergessen, schreiben Sie sich am besten den ganzen Streit haarklein auf. Wenn Sie sich nicht mehr ganz genau erinnern, ist das nicht weiter tragisch. Geben Sie alles sinngemäß wieder. Aber bitte nicht so zimperlich! Seien Sie kreativ! Schmücken Sie die Geschichte ein bisschen aus!  Es muss nur ganz klar ersichtlich sein, dass die Schuldfrage eindeutig zulasten Ihres Streitpartners geht. Wählen Sie da die schärftsten Formulierungen, die Ihnen einfallen. Und nach spätestens vier Wochen glauben Sie fest daran, dass er alles haargenau so gesagt hat.  Schließlich haben Sie das ja schwarz auf weiß!

Wenn Sie das gut gemacht haben, werden Sie schon jetzt beträchtlich unglücklich sein. Versichern Sie sich von nun an täglich mehrmals eindringlich, dass Sie sich ganz entsetzlich fühlen. Das schult Ihre Leidensfähigkeit.

Gefährden Sie Ihre Bemühungen in dieser frühen Phase aber auf keinen Fall durch ein klärendes Gespräch. Beschränken Sie sich darauf, den anderen durch versteckte Andeutungen und seelenvoll traurige Blicke darauf hinzuweisen, wie sehr Sie leiden. Sollte er sich dann erkundigen, was Ihnen fehlt, seufzen Sie: "Ach, es geht schon!" oder etwas in der Art. Aber vermeiden Sie auf jeden Fall konkrete Angaben, die er ausnutzen könnte, um Ihr Unglücklichsein mit ein paar versöhnlichen Worten aus der Welt zu schaffen.

Vertiefen Sie Ihren Kummer! Grübeln Sie darüber nach, wie dieser Mensch Ihnen so etwas antun konnte! Ist das nicht ein eindeutiger Beweis dafür, dass er Sie verachtet?  Jawohl! Er verachtet Sie! Fallen Ihnen nicht auf Anhieb tausend Gründe dafür ein? Sind Sie nicht in der Tat ein Mensch, den man einfach verachten muss? Entdecken Sie nicht auch bei anderen Menschen Zeichen von Verachtung? Trauen Sie keinem mehr! Die haben sich doch alle gegen Sie verschworen! Merken Sie, wie das Unglücklichsein zu nimmt?

Werden Sie nicht nervös, wenn Ihnen Ihre Arbeit allem Unglücklichsein zum Trotz weiterhin Spaß macht und Sie ablenkt. Das lässt sich leider nicht immer vermeiden. Es kann sogar passieren, dass Ihnen danach dieser ganze Kummer völlig lächerlich erscheint. Lassen Sie sich dadurch nicht entmutigen. Eilen Sie nach Hause. Greifen Sie zu Ihren Aufzeichnungen und widmen Sie sich denen ebenso konzentriert wie Ihrer Arbeit. Dann stellt sich das Unglücklichsein auch wieder ein.

Trotzdem lässt es sich nicht vermeiden, dass nach zahlreichen traurigen Wochen und Monaten ein bisschen die Luft aus Ihrem Kummer heraus ist. Nun ist die Zeit reif für eine Aussprache.  

Beachten Sie aber bei der Auswahl des richtigen Zeitpunkts noch ein paar Regeln. Wählen Sie auf keinen Fall einen Tag, an dem Ihr Gegner ausgeruht und nervenstark ist. Günstig sind dagegen Zeiten, wo der andere sich vor Terminen nicht retten kann, unter einem Berg unerledigter Arbeiten zusammenzubrechen droht, jede Menge Ärger hat und kaum Schlaf findet, weil der dritte Backenzahn unten links höllisch weh tut. Genau dann ist Ihre große Stunde gekommen, ihn dringend und mit Leidensmiene um eine Aussprache zu bitten.

Sie leiten ein solches Gespräch am besten damit ein, dass Sie sagen: "Also, was du mir da vor zehn Monaten angetan hast, das kann ich einfach nicht glauben!" oder so ähnlich. Was macht es schon, dass er behauptet, sich nicht zu erinnern und dass er im Augenblick den Kopf voll von anderen Dingen hat. Lassen Sie jetzt nicht locker. Erzählen Sie ihm lang und breit, was er sich damals hat zuschulden kommen lassen.  Strapazieren Sie gründlich seine Geduld und seine zerrütteten Nerven! Mit ein wenig Geschick bringen Sie ihn früher oder später so weit, Sie zu unterbrechen. Nun schluchzen Sie trocken auf: "Nicht mal ausreden lässt du mich!" Darauf wird er sich verteidigen, Sie hätten jetzt mindestens zwei Stunden an einem Stück geredet. Begegnen Sie diesem lächerlichen Argument mit der Klage, dass er überhaupt kein Verständnis für Sie hat, wo Sie sich doch gerade jetzt so entsetzlich fühlen.

Wenn alles nach Plan läuft, dürfte er nun so weit sein, dass er die Geduld verliert, Sie unbeherrscht anbrüllt und Ihnen Sachen an den Kopf wirft, die seine alten Verfehlungen durchaus noch übertreffen. Damit sind die Voraussetzungen für die nächsten unglücklichen Monate geschaffen, und Sie können nach bewährtem Muster wieder von vorn anfangen.

Alles kapiert? Na dann viel Unglück!